Sonntag, 26. Februar 2012

Einführung in Helmuth Plessners philosophische Anthropologie: Die exzentrische Positionalität des Menschen

1) Einführung
Helmuth Plessner (1892-1985) - seines Zeichens Philosoph und Soziologe hat die philosophische Anthropologie auf eine neue Ebene gebracht. Diesen Ruf hat Plessner seinem Konzept der "Exzentrischen Positionalität des Menschen" zu verdanken, das er in seinem Werk "Die Stufen des Organischen und der Mensch" (1975) entwickelt. Dieses Konzept, das heute die Basis für viele anthropologische Ansätze, z.B. auch auf dem Gebiet der Theologie darstellt, soll im Folgenden erläutert werden. Natürlich kann eine solche Aufbereitung niemals die Lektüre der entsprechenden Texte ersetzen und soll auch nur einen groben Überblick darüber geben, was hinter Plessners philosophischer Anthropologie steckt. 



2) Was versteht man unter "(Exzentrischer) Positionalität"?
Um im folgenden die Exzentrizität des Menschen nach Plessner zu verstehen, muss zunächst geklärt werden, was der Philosoph unter dem Begriff der "Positionalität" versteht.
Plessner unterscheidet nämlich zunächst zwischen anorganischen und organischen Körpern. Der Unterschied zwischen diesen beiden ist klar gegeben: organische Körper haben eine Beziehung zu ihrer Umwelt. Inwieweit sich diese Beziehung allerdings auswirkt, führt Plessner zu der Frage nach der Position einzelner Lebewesen. Hierbei widmet sich Plessner den drei Stufen: Pflanze, Tier, Mensch.
Die genauen Erläuterungen zu den einzelnen Stufen sehen wie folgt aus:

  • Pflanzen:  Pflanzen bilden die niedrigste Stufe der Lebewesen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie kein Zentrum haben, weshalb auch keine Individualität entstehen kann. Es findet ein rein offener Austausch mit ihrer Umwelt statt; Relationen sind nicht erkennbar.
  • Tiere: Tiere bilden geschlossene Kollektive. Aufgrund dieser "Teilnahme an einem Kollektiv" kann Individualität entstehen. ABER: Sie sind sich dieser (ihrer) Individualität nicht bewusst; sie verfügen zwar über ein Zentrum (das organisierte Kollektiv), sind aber auch an dieses gebunden. Tiere sind daher zentrische Lebewesen.
  • Menschen: Der Mensch bildet die höchste Stufe der Lebewesen. Ebenso wie das Tier verfügt der Mensch über ein Zentrum. Der entscheidende Unterschied, der auch die Disparität zwischen Tier und Mensch darstellt, ist allerdings, dass der Mensch aus diesem Zentrum "heraustreten" kann. Eine Folge davon ist, dass wir als Menschen Selbstreflexion üben können. Wir können aus "uns selbst heraustreten" und uns "von außen betrachten". Wichtig ist allerdings, dass der Mensch sein Zentrum nicht vollständig verlassen kann. Er ist also zentrisch und exzentrisch zugleich.
    Diese Differenzierung bezeichnet Plessner auch als "Bruch" zwischen Seele und Leib bzw. "Doppelaspekt" des menschlichen Wesens.
    Zitat: "Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch." (1)
Diese drei Stufen der Lebewesen mit ihren unterschiedlichen (zum Menschen hin immer komplexeren) Positionen zu sich und der Umwelt stellen die Grundlage von Helmuth Plessners philosophischer Anthropologie dar. Auf der Basis der erläuterten Exzentrizität des Menschen entwickelt Plessner dann in weiteren Arbeiten seine Anthropologie, um die Frage nach dem Wesen des Menschen zu beantworten. Aufgrund dessen, dass diese Ableitungen, die Plessner aus seinem Basiskonzept macht sehr weitläufig sind und die unterschiedlichsten Gebiete der anthropologischen Forschungsarbeit abdecken, soll hier nur auf einzelne Beispiele eingegangen werden. Als wichtigste Folgerungen muss man sich vor allem mit den Anthropologischen Gesetzen Plessners auseinandersetzen.

3) Die drei anthropologischen Gesetze
Plessner hat insgesamt vier anthropologische Gesetze gefunden und formuliert. Meist wird allerdings nur von den drei zuerst gefundenen Gesetzen gesprochen, da das vierte erst in einer späteren Arbeit Plessners entwickelt wird und auch nicht den selben Einfluss auf das Gesamtkonzept hat, als die ersten drei.
Natürlich sind die drei Gesetze äußerst komplex und können hier nur angerissen werden. Es wird hier die Lektüre der Originaltexte dringend empfohlen. Trotzdessen soll hier ein kurzer Überblick gegeben werden, um auch das Wesen des Menschen mit den Begriffen der Geschichte, Kultur und Gesellschaft verbinden zu können. Das vierte Gesetz stellt entsprechend die Verbindung zur politischen Ebene her.
  1. Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit
    Zitat "Als exzentrisch organisiertes Wesen, muß er sich zu dem, was er schon ist, erst machen." (2)
    Dieser Satz ist die Basis für Plessners erstes Gesetz. Der Mensch ist also ein Wesen, das sich zu dem machen muss, was er schon ist, und das Leben führen muss, das er bereits führt. Diese paradox anmutende Eigenschaft, die Plessner den Menschen zuschreibt macht eben diesen zu einem künstlichen Wesen. Der Mensch ist nur dann, wenn er vollzieht.
    Natürlichkeit ist also keine Eigenschaft des Menschen. Als Komplementär ist er also künstlich. Bedingt durch die exzentrische Positionalität ist der Mensch Ergänzungbedürftig. Plessner spricht hier von der "Hälftenhaftigkeit" des Menschen, da dieser aufgrund des Bruchs zwischen Seele und Leib, kein ganzes, kein vollständiges Wesen ist. Um entsprechend sein eigenes Wesen zu vervollständigen und gegen diese "Nackheit" (Zitat Plessner!) anzukommen, handelt der Mensch künstlich. Diese Künstlichkeit ist für den Philosophen auch der Grund, weshalb der Mensch Kulturen bildet, auf die er laut Plessner angewiesen ist.
    Zitat: "Daß der Mensch mit seinen natürlichen Mitteln seine natürlichen Triebe nicht befriedigen kann, dass er nicht zur Ruhe kommt in dem, daß er ist, und mehr sein will, als er ist und daß er ist, daß er gelten will und zur Irrealisierung in künstlichen Formen des Handelns, in Gebräuchen und Sitten, unwiderstehlich hingezogen wird, hat seinen letzten Grund nicht im Trieb, im Willen und in der Verdrängung, sondern in der exzentrischen Lebensstruktur, im Formtypus der Existenz selber." (3)
    In diesem Zitat ist auch gut erkennbar, dass Plessner die Kulturenbildung z.B. nur auf die Positionalität des Menschen zurückführt und so z.B. den Konzepte und Theorien anderer großer Anthropologen und Psychologen (bspw. Sigmund Freud) hier ihren Boden entzieht.
  2. Das Gesetz der vermittelten Unvermittelbarkeit
    Zunächst sei hier gesagt, dass dieses Gesetz weit aus komplizierter ist, als das erste. Es kann entsprechend nur angerissen werden.
    Analog zum ersten Gesetz entwickelt Plessner auch hier ein scheinbares Paradoxon: der Mensch soll also in einer vermittelten und unvermittelbaren Beziehung zu seiner Außenwelt gleichzeitig stehen. Um diese scheinbare Widersprüchlichkeit zu durchleuchten, muss man wieder die exzentrische Positionalität des Menschen beachten. Denn der Mensch ist ja durchaus ein zentrisches Wesen. Entsprechend steht er im Zentrum seine Stehens. Er ist also gleichzeitig teilhaftig an der Vermittlung zwischen ihm selbst und seiner Umwelt und er selbst, er steht in ihm. Daraus folgt, dass der Mensch also in einer indirekten Beziehung zu äußeren Dingen steht, er selbst lebt sie aber natürlich als direkte, unmittelbare Beziehung. Diese "duch-sich-selbst-entstehende" Beziehung schreibt Plessner auch den Tieren zu, die ja schließlich auch ein Zentrum besitzen. Die Crux ist allerdings hier wieder, dass das Tier sich seiner Zentrizität ja nicht bewusst ist. Folglich erscheint dem Tier jede Beziehung als unmittelbar. Diese Unmittelbarkeit trifft analog auch auf den Menschen zu, aber da dieser ja "von sich selbst weiß" und sich bewusst ist, dass er selbst Vermittler zwischen ihm und der Außenwelt ist; so erfasst der Mensch das ganze als direkte und indirekte Beziehung zugleich. Da dieser ganze Vermittlungprozess im menschlichen Bewusstsein abläuft, nannte Plessner diese Eigenschaft auch "Bewusstseinsimmanenz" des Menschen.
    Aus dieser Beziehung zwischen dem Menschen und der Außenwelt entsteht auch für den Menschen eine so genannte Mitwelt bzw. der Drang nach Sozialität. Entsprechend spricht Plessner dem Menschen ein Ausdrucksbedürfnis zu und begründet also die Expressivität des Menschen mit seinem zweiten Gesetz. 
  3. Das Gesetz des utopischen Standorts
    Auch beim letzten hier zu besprechenden Gesetz Plessners steht man zu Beginn vor einem paradoxen Satz. So nimmt laut Plessner der Mensch einen utopischen ("Nicht-Ort") Standort ein. Dies ist damit zu begründen, dass die Exzentritzität für den Menschen einen unlösbaren Widerspruch darstellt. Seine Position nimmt er zugleich ein und nicht ein. Eine exakte Fixierung auf einen Standort ist aufgrund der Exzentrizität nicht möglich.
    Zwei wichtige Folgen ergeben sich hierraus: zum Einen resultiert aus dem utopischen Standort des Menschen die gesamte Geschichtlichkeit. Der Mensch ist eine "Aufgabe für sich selbst" und versucht immer wieder sich selbst zu übertreffen. Im Vergleich zu den Tieren ist der Lernprozess des rein-zentrischen bzw. tierischen Kollektivs immer gleich.
    Zweitens wagt Plessner mit diesem Gesetz eine Verbindung zur Religion. Der Mensch als utopisches Wesen hat in sich keinen Halt. Er braucht etwas, dass ihm Orientierung und Halt verschafft. Dies geschieht durch eine Vorstellung eines Gottes, "einer Welt"; der Mensch strebt nach Einheitlichkeit, der seine Individualität gegenüber steht. Gleichzeitig aber zwingt ihn die Exzentrizität auch zu einem Zweifel an diesem Gott, womit Plessner einen ersten Schritt in Richtung Religionskritik wagt.
    Zitat: "Dem menschlichen Standort liegt zwar das Absolute gegenüber, der Weltgrund bildet das einzige Gegengewicht gegen die Exzentrizität. Ihre Wahrheit, ein existentielles Paradoxon, verlangt jedoch gerade darum und mit gleichem inneren Recht die Ausgliederung aus dieser Relation des vollkommenen Gleichgewichts und somit die Leugnung des Absolutes, die Auflösung der Welt." (4) 
    4) Abschließendes Fazit:
    Nach der Besprechung der exzentrischen Positionalität des Menschen und den daraus resultierenden drei Gesetzen sollte grob geklärt sein, wie Plessner seine philosophische Anthropologie entwickelt hat. Um hier nochmals auf den Anfang zurückzukommen sei gesagt, dass Plessner neben diesem System der drei (bzw. vier Gesetze) mit seiner philosophischen Anthropologie versucht hat, die unterschiedlichsten Fachgebiete der allgemeinen Anthropologie in Verbindung zu setzen. So beschäftigt er sich z.B. auch mit der Leidenschaft, der Anthropologie von Schauspielern oder aber auch dem menschlichen Verhalten en detail (wobei natürlich bereits aus den Gesetzen Verhaltensmuster des Menschen erkennbar sind). Als Schlüssellektüre sei auch noch zu nennen: Plessners Text "Der Aussagewert einer philosophischen Anthropologie" (1973) in dem er sich mit den zeitgenössischen "Gegenbewegungen" zu seiner Anthropologie, allen voran Martin Heideggers Fundamentalontologie, aber auch der Phänemologie auseinandersetzt und die "Vorzüge" seines Konzept herausarbeitet.

    5) Quellen der Zitate:
    1: "Einführung in die theologische Anthropologie" von W. Schoberth (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)
    2-4: "Mit anderen Augen. Aspekte einer anthropologischen Philosophie" von Helmuth Plessner (Reclam Verlag)
     
     

1 Kommentar:

  1. Tja - wenn der Plessner gewusst hätte, dass es viel einfacher ist mit dem Faktum ein Körper zu sein und einen Körper zu haben -dann wäre der Text einfacher geworden.... Plessner und all die anderen scheinen aber nicht genau hin zu sehen, was da eigentlich genau existiert, was uns ausmacht und uns umgibt. Ich sage es mal so: Alles exisitert im Jetzt - nur ist das Jetzt so kurz (nämlich ein Chronon), dass unser Bewußtsein das nur von Ferne betrachten kann. Entweder mit Blick auf die Vergangenheit oder vorausschauend und planend in die Zukunft gerichtet, um das kommende "Jetzt" zu gestalten. Zwischen dem im "Jetzt" immer anwesenden Körper und dem im selben jetzt sich befindenden Bewußtsein (Geist) mit seinen Betrachtungen über Vergangenheit und Zukunft existiert noch die Gefühlswelt (Seele), welche - nicht ganz weit hinterherlaufend wie der Geist - für Emotionen sorgt. Dies betreffen das gerade soeben erlebte also auch vorstestelle künftige Erlebnisse.
    Diese Dreitteilung in Körper-Seele-Geist sorgt dann eben für den unlösbaren Widerspruch, dass ich parallel in mehreren Dimensionen unterwegs bin. Wenn man sich dessen aber einmal bewußt ist, dann kann man es lockerer angehen lassen und mit seinem Bewußtsein dafür sorgen, dass es zuvorderst dem Körper und als nächstem der Seele gut geht. Körper und Seele sind für mich das nach innten gerichtete "Selbst", während das Bewußtsein für das nach aussen orientierte "Ich" steht. Selbstvertrauen, Selbstbewußtsein, Selbstwirksamkeit, Selbstkontrolle sind keine neuen Begriffe, aber unter dem Aspekt des oben genannten und mit der notwendigen Achtsamkeit dürfte ein zufriedenes Leben gelingen -vielleicht sogar eine Rückkehr ins Paradies?

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